Sibylle Ryser on «Electric Mountains» and «Days in Nights» (in German)
Essay for the exhibition «Streulicht», Ausstellungsraum Klingental, Basel, 2013
STREULICHT
Thomas Kneubühlers „Electric Mountains“ (2009) faszinieren unmittelbar mit einer kalten, hyperrealen Ästhetik. Die Natur des Abgebildeten erschliesst sich dagegen nicht sofort. Wie Lavaströme ergiessen sich Lichtschlangen über nächtliche Hügel in der Ferne, ihr Widerschein erreicht den Schnee im Vordergrund. Sind es geisterhafte Prozessionen, übersteuerte Suchtrupps, Landebahnen für Ausserirdische? Dem Künstler gelingt es, dokumentarische Aufnahmen wie geheimnisvolle Visionen erscheinen zu lassen. Mit der Grossbildkamera hat er aus der Ferne die nächtlich beleuchteten Skipisten in Québec festgehalten. Es sind spektakuläre Landschaften, die nur dank Kunstlicht und Langzeitbelichtung aus dem Dunklen hervortreten – und damit nicht zuletzt eine perfekte Bildmetapher für die Voraussetzungen der Fotografie überhaupt.
Nachtskifahren ist in Kanada ein selbstverständliches Vergnügen, was sich zum einen den langen Nächten des nördlichen Breitengrads, zum andern einer sorglosen Haltung gegenüber energieaufwändigen Technologien verdankt. Kneubühler dagegen ist mit den hiesigen Bergmythen aufgewachsen, den Erzählungen von wilder, unberührter Natur. Mag sein, dass die Schweizer Herkunft seinen Blick für das Befremdliche am Selbstverständlichen geschärft hat. Seine Sensibilität für die Erscheinungsformen des Alltäglichen als etwas Aussergewöhnlichem hat er bereits früher unter Beweis gestellt (so etwa mit den funkelnden Hochhaus-Skulpturen der Serie „Office 2000“, zu sehen u.a. 2008 im Kunstmuseum Solothurn).
Die entrückte Schönheit dieser elektrifizierten Berge ist jedoch eine ambivalente. Die Bilder rufen auch ökologische und soziale Themen ins Bewusstsein. Energieverschwendung, Lichtverschmutzung, die Übernutzung der Natur duch die Freizeitgesellschaft, die Sucht nach Spektakel, die Künstlichkeit einer für Konsumbedürfnisse zurechtgemachten Umwelt. Skifahren kann man inzwischen auch in der Wüste. Auch die Ästhetik des Schrecklichen ihre Ikonen: der Atompilz von Hiroshima, die einstürzenden Twin Towers. Angesichts solcher Bilder und in Kenntnis ihrer Bedeutung wagt kaum jemand, über deren Schönheit sprechen, aber dennoch ist sie da. Kneubühlers Fotos führen in die Nähe dieses Dilemmas, aber nicht soweit, dass das Thema in die Tabuzone fällt. Das erlaubt es, seine Bilder gleichzeitig als hinreissende Porträts einer irrealen „Land Art“ UND als kritischen Kommentar zu einigen menschlichen Machenschaften zu sehen.
„Days in Night“ (2013) ist ein erstes Resultat der jüngsten Expedition Kneubühlers, die ihn in eine kanadische Militärstation führte, 800 km vom Nordpol, mitten im Packeis und in schwärzester Polarnacht. Aus der totalen Dunkelheit der Videoprojektion tauchen sehr langsam die Konturen einer nächtlichen Umgebung auf. Was man spontan für den Tagesanbruch in arktischer Dunkelheit hält, ist tatsächlich eine vier Minuten dauernde Aufblende. Aus dem Off spricht eine Soldatin über ihre Erfahrungen an diesem entlegenen Ort. Orientierung ist schwierig, wenn es keinen Sonnenstand gibt, der eine intuitive Situierung in Raum und Zeit erlaubt. Hier funktioniert nicht einmal der Kompass, denn selbst der magnetische Norden liegt südlich der Station. Zwei Fotos vom selben Ort zeigen eine Landschaft, von der man nicht sicher ist, ob sie nicht doch nur als Modell im Studio exisitiert – gänzlich unspektakulär, aber so fremd, dass man sie für fiktional halten könnte.
Die Vielfalt dokumentarischer Kunst führte die documenta 11 in epischer Breite vor Augen. Ihr Leiter Okwui Enwezor war mit einem postkolonialen Anspruch angetreten, was den genauen Blick auf die realen Verhältnisse voraussetzt. Der Überblick warf allerdings auch Fragen auf: Inwiefern unterscheidet sich ein dokumentarisches Künstlervideo von einem „normalen“ Dokumentarfilm, abgesehen davon, dass es oft einfach weniger professionell gemacht ist? Sieht „politische“ Malerei wirklich aus wie ein Plakat für Amnesty International? Ist der appellative Charakter vieler dokumentarischer Werke nicht fehl am Platz in der Kunst; ist Kunst im Dienst jedwelcher Ideologie überhaupt Kunst? Sollte gute Kunst nicht gerade einen Raum jenseits von Ideologien und moralischen Denkverboten erschliessen?
Thomas Kneubühlers „Dokumentarismus“ ist eher ethnologischer Natur: Er trainiert den fremden Blick aufs -Eigene. Nördlich des Polarkreises ist die Erde nicht länger vertraute Heimat, sondern einfach ein Planet im Weltall. Fremd und unwirklich sind auch die elektrifizierten Berge. Dieses Werk ist ein künstlerisches Statement, das die Spuren des Menschen auf diesem Planeten nicht als hässlich porträtieren muss, um eine politische Aussage zu pointieren. Kneubühler hat vielmehr ein – genuin künstlerisches – Interesse an der Ästhetik der Phänomene, was einen ganzen Echoraum an Bedeutungen eröffnet. Das Politische als dem ästhetischen Bild eingeschriebener Nachhall: das ist dokumentarische Kunst, die nicht zur Propaganda verkommt.